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„Menschen mit Meer“

5. August 2013

Menschen mit Meer

Alex Hofmann, Menschen mit Meer. (Nordhausen 2013: Kleine Wege) 246 S. Paperback 14,90 €, ISBN 978-3-937340-23-4

Das Buch liest sich wie eine Reiseerzählung. Vielleicht ist es das auch. Alex Hofmann hat in einem Internetportal 13 Bekanntschaften geknüpft. Und diese Menschen trifft sie nun im „real life“, um kleine Persönlichkeitsportraits von ihnen zu zeichnen. Alle 13 sind, wie mein Sprössling es ausdrücken würde, „etwas speziell“. Sie haben vom Üblichen abweichende Lebensgewohnheiten, andere Wahrnehmungsweisen, besondere Interessen.

Das Anders-Sein hat einen Namen, aber der fällt fast zufällig, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet, auf Seite 34: Autismus. Das ist gut so. Denn so ist es möglich, all diese Menschen ohne das Etikett einer medizinischen Diagnose oder gar von Vorurteilen zu betrachten. Statt dessen begegnen sie einem als Individuen. Der Amateurpianist Sepia, der Musik als Farblandschaften wahrnimmt. Der Luftballonexperte Oliver. Anna, die sich in einer „Tafel“ für Bedürftige engagiert und Heilkräuter sammelt. Kai, der sich Körpersprache und Smalltalk mit Karteikarten antrainierte wie andere Leute die Vokabeln einer Fremdsprache. Und der nun Flirtkurse gibt. Corinna, die mit einer aufgepimpten Dachrinne als Antenne Raumschiffe anfunkt. Sie alle haben das Asperger-Syndrom, aber jeder ist anders.

Hofmann begegnet ihnen zu Hause, in Parks, besucht mit ihnen die Sternwarte, die Fotoausstellung, die Bibliothek, den Zoo, streift über Felder, macht Strandspaziergänge. Sie stellt Fragen, macht aber keine Interviews. Sie lässt sich einfach erzählen, nimmt Anteil, beobachtet, hört zu. Und auch wenn sie mit ihren Gesprächspartnern die Liebe anspricht, wirken ihre Portraits nicht voyeuristisch. Eher behutsam.

Der Autismus selbst, dem die Autorin ursprünglich nachforschen wollte, gerät oft ganz in den Hintergund. So bei Kira, die aus ihrer Erfahrung als Transsexuelle erzählt. Erst gegen Ende des Buches, als sie dem DJ Nick begegnet, der in einer Beratungsstelle für Betroffene arbeitet und dem szenebekannten Blogger und „Querdenker“ Aleksander K., verdichten sich die Informationen, aber immer aus dem Blickwinkel der Autisten selbst. Letztlich kann der Leser die Lektüre mit einem gerüttelt Maß an Informationen über das Asperger-Syndrom abschließen, ohne in irgendeiner Weise „belehrt“ worden zu sein.

„Der zufriedene Mensch sieht nur bis zum Horizont, der nachdenkliche Mensch weiß jedoch, dass dahinter noch die zweite Hälfte des Erdballs liegt, die man für sich endecken kann.“

Diese und andere Lebensweisheiten sind in Text eingestreut. Man findet sie unvermittelt wie bunte Muscheln am Strand, um die im Buch immer wiederkehrende Metapher des Meeres auch in der Rezension aufzugreifen. Und darin portätiert sich die Autorin selbst: eine charmante, unvoreingenommene, frische, neugierige, aber auch achtsam zurückhaltende und nachdenkliche junge Frau. In ihrem ersten Werk präsentiert die freie Journalistin und Mitarbeiterin an mehreren Autismus-Projekten ein unprätentiöses, aber beachtenswertes Plädoyer für ein aufmerksames, voruteilsfreies und behutsames Miteinander, für ehrliches Interesse am Mitmenschen. Nicht nur gegenüber Autisten.

„Es ist nicht nur so, dass du eine Menge von den Menschen lernst, mit denen du dich triffst – auch du gibst durch deine Art anderen etwas mit. Es hat mir gut getan, mit dir zu sprechen.“ bekennt Aleksander. Das Buch ist also nicht objektiv. Es ist zutiefst persönlich, vor allem: menschlich.

Manchmal hätte es den Lesekomfort gefördert, wenn der Text mehr duch Absätze gegliedert gewesen wäre.

Das Coverfoto zeigt einen verblichenen Jeansrucksack. Man wünscht dem Buch viele solcher Rucksäcke, aus denen es immer wieder hervorgekramt wird: am Strand von St. Peter-Ording, in der Bahn zwischen Wilhelmshafen und Varel oder auf eine Parkbank an der Salzach oder sonstwo.

http://www.menschen-mit-meer.de/

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Bildrechte: Verlag kleine Wege, Nordhausen. Foto mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

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